Stellen Sie sich vor, Sie sind alleine in einem Raum und können Hände, Arme und Beine nicht mehr bewegen. Es ist dunkel, Sie können den Lichtschalter weder erreichen noch anknipsen. Sie möchten in den Nebenraum, kommen aber nicht vom Fleck. Sie möchten jemanden anrufen, können jedoch Ihr Handy nicht bedienen.
Das ist der Alltag eines Tetraplegikers, einer querschnittgelähmten Person, bei welcher alle vier Gliedmassen gelähmt sind. Ein Verkehrs- oder Sportunfall (Schädigung des Rückenmarks im Halswirbelbereich), eine angeborene Krankheit (Kinderlähmung, Syringomyelie) oder erworbene Krankheit (Tumor, Infektion, Folgen einer neurologischen Autoimmunerkrankung, z.B. Multiple Sklerose) kann eine Querschnittlähmung verursachen. Das verletzte, funktionsuntüchtige Rückenmark lässt die vom Gehirn an Arme und Beine gesendeten Signale nicht mehr ankommen. Während ein Paraplegiker Arme und Hände noch willentlich bewegen und nutzen kann, sind beim Tetraplegiker alle vier Extremitäten von der Lähmung betroffen.
Und danach ist nichts mehr wie es war
Eine schwere Rückenmarksverletzung zerstört in Kürze und ausserordentlichem Masse alle bisherigen Lebenspläne, der normale Alltag gerät aus den Fugen, schüttelt die eigene Familienplanung durcheinander, macht Vorhaben zu Nebenplänen und setzt alles auf null.
Frau Dr. med. Silvia Schibli, Chefärztin Hand- und Tetrahandchirurgie am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil, erfährt tagtäglich, wie die vollständige Abhängigkeit, 24/7 auf andere angewiesen zu sein und der Verlust der gesamten Privatsphäre den betroffenen Tetraplegikern extrem zu schaffen machen. «Gar nichts mehr selber machen können - weder essen noch trinken, duschen, sich ankleiden, SMS schreiben – und für alles um Hilfe bitten müssen verändert die Selbstwahrnehmung und hat eine enorme Auswirkung auf das Selbstwertgefühl», weiss Silvia Schibli. So erstaunt es auch nicht, dass es gemäss verschiedenen internationale Studien für die befragten Tetraplegiker der grösste Wunsch ist, eine Hand wieder bewegen zu können. Für die Betroffenen sind die Hände, neben dem Hirn, die wichtigste Ressource im Alltag.
«Für mich sind die anspruchsvollen operativen Eingriffe immer wieder eine Herausforderung und Motivation. Und dann gibt es bei aller Arbeit auch diesen ganz speziellen, ergreifenden Moment, wenn am Tag eins nach der Operation der/die PatientIn die Finger erstmals wieder bewegen kann. Oder wenn bei Patienten nach einer langen, schweren Zeit nach einer Operation mit viel therapeutischer Arbeit und Willensanstrengung «plötzlich» etwas gelingt, was vorher nicht möglich war. Da weiss ich, wofür ich diese Arbeit mache».
Heute lässt sich das Schicksal zumindest partiell beeinflussen
Nach einer Verletzung des Rückenmarks sind die Mediziner in der ersten Phase mit akuten Aufgaben gefordert wie die Stabilisierung des Patienten, die Behandlung der Wirbelsäule selbst und die Leistungserhaltung der inneren Organe. Auch der sozialen Situation sowie dem näheren und weiteren Lebensumfeld muss Rechnung getragen und Vorsorge geleistet werden.
Nach der ersten Phase, wenn der/die PatientIn stabil ist und sich mittlerweilen etwas zurecht gefunden hat, kann eine Standortbestimmung vorgenommen werden und die Handchirurgie wird ein Thema. Hier kommt das SPZ Tetrahandchirurgie-Team unter der Leitung von Dr. Silvia Schibli und Prof. Jan Fridén dazu. «Bei den meisten Patienten ist zu diesem Zeitpunkt die Akutphase und der grosse Schock vorbei. Sie sind mit der Verarbeitung des Geschehenen bereits einen Schritt weiter. Meist sind sie zudem sehr gut informiert, gut vernetzt und können klar formulieren, was sie wollen. Natürlich spielt auch hier das familiäre, soziale Umfeld eine wichtige Rolle und so sind Familienangehörige bei Arzt-Patient-Gesprächen häufig dabei», erklärt Silvia Schibli.
Und dann beginnt der anspruchsvolle Weg zur Rückgewinnung sehnlichst gewünschter Arm- und Handfunktionen.
Kein Eingriff ohne komplexe Planung
«Ziel ist die bestmögliche Wiederherstellung der Selbständigkeit des Patienten, damit er/sie alltägliche Tätigkeiten wieder selber ausführen kann», führt Silvia Schibli aus. Bei einem rekonstruktiven Eingriff der Hand stehen zwei Hauptbereiche im Fokus:
- Die Wiederherstellung der Ellbogenstreckung, welche die Voraussetzung schafft für einen «funktionierenden» Arm mit entsprechendem Bewegungsumfang, damit der Arm im Raum bewegt werden kann
- Die Wiedererlangung von passiven oder aktiven Handfunktionen wie der Greiffunktion (Faustschluss) und des Schlüsselgriffs sowie der Handöffnung.
Die angewandten Verfahren beinhalten Nerven- und Sehnentransfers, d.h. die Umlagerung von noch funktionierenden Nerven oder funktionierenden Muskel-Sehneneinheiten auf funktionsunfähige Nerven oder Muskeln.
Die Planung eines Eingriffs beinhaltet nach einer sorgfältigen Analyse der vorhandenen Hand- und Armmotorik mit Muskelkraft-Status nicht nur die Selektion des chirurgischen Verfahrens und der handtherapeutischen Ansätze. Denn beim Vorgehen gibt es nicht nur eine Technik und nicht nur zwei oder drei Lösungsmöglichkeiten.
Silvia Schibli erklärt: «Im SPZ wird für jeden Patienten eine höchst individuelle Planung erarbeitet, was ein anspruchsvoller und äusserst komplexer Entscheidungsprozess ist. Die mehrstufige Planung erfordert sehr viele Detailentscheide in den unterschiedlichen Bereichen und Phasen.
Selbst während der 5 - 6 stündigen Operation eines komplexen Eingriffs für eine umfassende Rekonstruktion ist bei jedem einzelnen Schritt präzises Beurteilen und Entscheiden wichtig, was höchste Konzentration erfordert. Dabei spielen neben der eigenen medizinischen Ausbildung und dem Wissen besonders die Erfahrung sowie praktisches Wissen, welches nicht aus Büchern erlernbar ist, eine bedeutende Rolle. Und - matchentscheidend - die Zusammenarbeit in einem erfahrenen, eingespielten Chirurgenteam».
Nach dem aufwendigen Eingriff beginnt bereits ein Tag danach die Rehabilitation und 3- bis 4mal tägliches Training mit den HandtherapeutInnen.
Operation und Reha sind nicht alleine für das Resultat verantwortlich
Die Erfahrungen von Silvia Schibli zeigen, dass personenbezogene Faktoren bei der Genesung von PatientInnen eine wichtige Rolle spielen: «Je jünger der Patient ist und je sportlicher er/sie vor dem Unfall/Krankheit war umso besser sind die Voraussetzungen für ein positives Resultat. Denn die bisherige körperliche Konstitution, die vorhandenen Muskeln, die Willensstärke und der Wille unabhängig zu sein sowie das Durchhaltevermögen sind positive Parameter für die Rehabilitation».
Je älter, schwächer, fragiler ein Patient ist – mit steifen Gelenken etwa oder schwachen Muskeln – umso schwieriger ist eine Rekonstruktion und Erholung.
Operation gut – alles gut?
Nach einem Tetrahandchirurgie-Eingriff ist nicht automatisch alles gut. Aber für viele Patienten sind zurückgewonnene Fertigkeiten auch psychisch wichtig. Sie geben ihnen Motivation und Mut sowie Kraft für ein trotz Einschränkungen lebenswertes Leben. «Ich traue mich wieder», «Ich habe Selbständigkeit zurückgewonnen», «Ich habe wieder Lebensqualität gewonnen» sind einige der häufigsten positiven Nennungen in Patientengesprächen.
Leute mit Handschlag begrüssen zu können, ist für mich der grösste Gewinn.
Patient
Ich brauche keine Assistenten mehr, um Emails oder SMS zu schreiben oder auch nur das Handy zu halten.
Patientin
Studienresultate1,2 zeigen, dass sich durch die zurückgewonnenen Handfähigkeiten die empfundene Lebensqualität stark verbessert. Praktische Aspekte sind: die wieder möglichen Aktivitäten, das einfachere Alltagsleben, das wieder teilnehmen können bei sozialen Aktivitäten, die geringere Abhängigkeit von Dritten sowie weniger Einschränkungen durch die physische Umgebung. Die psychologischen Aspekte betreffen zurückgewonnene Privatsphäre und Identität, das «Zurückerobern» eines Körperteils, besseres Im-Griff-Haben, wieder selber managen können und positive Erlebnisse mit Bekannten und Freunden teilen zu können.
Die Zukunft der Tetrahandchirurgie
Die operativen Techniken zur Funktionsrekonstruktion an der Hand bestehen seit längerem. Der bis heute erreichte Fortschritt liegt vor allem in der Entwicklung differenzierterer Vorgehensweisen, in der Kombination von verschiedenen Techniken sowie der besseren Teilung des Wissens weltweit, was den Zugang erleichtert. Die Disziplin der Tetra-Handchirurgie ist dadurch heute bekannter und etablierter.
Gemäss Einschätzung von Silvia Schibli liegt die Zukunft zum einen vor allem in der weiteren Verbesserung und Verfeinerung der operativen Techniken. Da steuern das fortlaufende Erfassen und Auswerten der Schritte und der postoperativ erreichten Resultate zum Wissensaufbau bei. Zum anderen wird die Kombination von Nerven- und Sehnentransfers weiter an Bedeutung gewinnen.
Von weiteren Entwicklungen rund um computer-assistierte Vorgehen, funktioneller Elektrostimulation (Neurostimulatoren) sowie Implantaten wird sicher ebenfalls zu hören sein.
Grenzen der Medizin
Das bisherige Leben kann dem Betroffenen niemand zurückgeben. Denn leider ist es so, dass eine «Heilung» der Rückenmarksverletzung mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auch heute nicht möglich ist. Betroffene mit hohen Rückenmarksverletzungen werden mit bleibenden, unwiderruflichen Lähmungen weiterleben müssen.
Tetraplegie
Ob sich eine Querschnittlähmung als Tetra- oder Paraplegie manifestiert, hängt davon ab, in welchem Bereich der Wirbelsäule das Rückenmark verletzt oder geschädigt wurde, also ob Hals-, Brust- oder Lendenwirbel betroffen sind. Je höher der verletzte Wirbel mit zerstörten Nervenzellen oder unterbrochenen Nervenfasern liegt, umso weitreichender sind Lähmung und betroffene Körperfunktionen.
Die Tetraplegie (tetra = vier, plegie = Lähmung) ist eine komplette (oder inkomplette) Lähmung aller vier Gliedmassen, hervorgerufen durch eine Rückenmarkverletzung an der Halswirbelsäule (7 Wirbel). Die Paraplegie hingegen wird durch eine Verletzung an der Brustwirbelsäule (12 Wirbel) und Lendenwirbelsäule (5 Wirbel) verursacht.
Eine Läsion des 1. bis 3. Halswirbels (C1-C3) führt zur schwersten Lähmungsform. In diesem Fall können keine Funktionen an den Armen rekonstruiert werden.
Bei einer Läsion ab dem 4. Halswirbel ist durch eine Operation eine Verbesserung erreichbar.
Ab dem 5./6. Halswirbel bestehen meist gute Möglichkeiten für eine partielle Rekonstruktion.
Die Handchirurgie-Abteilung SPZ Nottwil - europaweit einzigartiges Kompetenzzentrum
Es gibt weltweit nicht viele Kompetenzzentren der gleichen Art. So erhält das SPZ denn auch Anfragen aus der ganzen Welt, häufig auch von Patienten aus den Nachbarländern wie Deutschland oder im speziellen Fall ein Patient aus Südafrika, der sich durch Crowdfunding eine Behandlung im SPZ finanzierte.
Seit über 30 Jahren arbeitet das Schweizer Paraplegiker-Zentrum mit interprofessionellen Teams an der Optimierung des Rehabilitations-Outcome mit laufenden Weiterentwicklungen in der akutmedizinischen Behandlung, stationären Rehabilitation und ambulanten Nachbetreuung.
Die Qualität ergibt sich denn auch aus der gesamtheitlichen Denk- und Herangehensweise:
- Operation und Rehabilitation aus einer Hand: Der Patient wird nach einer Operation nicht einfach aus dem Spital entlassen und kommt für die Therapie an einen anderen Ort in «andere Hände». Die ständige Begleitung des Patienten mit der fortlaufenden Kontrolle des Therapiefortschritts und der Möglichkeit von gezielten, individuellen Eingriffen je nach Notwendigkeit sind die optimale Voraussetzung für eine bestmögliche Rehabilitation.
- Information: Frisch Verletzte werden gleich zu Anfang in der Akutphase umfassend informiert und in den nachfolgenden Phasen der Operation und Reha laufend mit aktuellen, weiterführenden Informationen versehen.
Die Spezialisten erarbeiten dabei für jeden Patienten einen differenzierten, individuellen, mehrstufigen Rekonstruktionsplan mit präoperativ definierten Zielen. Im Prozess selber wird jedes Patientengeschehen erfasst, protokolliert und dokumentiert. Bei den weiteren nachfolgenden Assessments nach einem halben, einem und zwei Jahren nach der Operation werden die Patientenfortschritte überprüft und wiederum videodokumentiert.
Quellen
1 Enhanced independence: experiences after regaining grip function in people with tetraplegia.
Wangdell J., Carlsson G., Fridén J.; Disabil Rehabil. 2013, 35: 1968-74.
2 From regained function to daily use: experiences of surgical reconstruction of grip in people with tetraplegia. Wangdell J., Carlsson G., Friden J., Disabil Rehabil. 2014;36:678-684
Illustrationen: Fridén J. Reach out and grasp the opportunity: reconstructive hand surgery in tetraplegia.
J Hand Surg Eur 2019;44:343-353
Fotos: © Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil
Filme: © SRF Puls, Die gelähmte Hand 1 + 2