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KarpaltunnelsyndromKribbelnde Hände bringen einem um den Schlaf

Karpaltunnelsyndrom

Das Karpaltunnelsyndrom macht vor allem Frauen zu schaffen. Wer seine kribbelnden Hände frühzeitig behandeln lässt, kann langfristige Schäden verhindern.

von Stefan Müller

Désirée Kellner liebte das Biken, nicht nur gemütlich auf der Strasse, sondern sportlich ruppige Alppfade hinunter. Doch dann begann es mit dem unangenehmen Kribbeln in der rechten Hand. Sie musste die Schussfahrt immer häufiger unterbrechen und die Hand kräftig schütteln, weil sie eingeschlafen war. Das Kribbeln trat nicht nur beim Biken auf, sondern früher schon nachts vor dem Einschlafen, dem sie aber weniger Beachtung schenkte. «Ameisenlaufen» und Taubheit in der Hand störten Désirée Kellner in der Folge immer mehr, sodass sie sogar nachts davon aus dem Schlaf gerissen wurde. Das wachsende Schlafmanko führte zu vermehrter Unkonzentriert- und zunehmender Gereiztheit, was sich auf das Familienleben und die Arbeit auswirkte.

Ich habe zulange gewartet, bis ich etwas dagegen unternahm.

Desirée Kellner

Vor elf Jahren ging es los, nach der zweiten Schwangerschaft. «Ich habe zu lange gewartet, bis ich etwas dagegen unternahm – fast zwei Jahre», stellt die heute 50-jährige Zürcherin selbstkritisch fest. Sie wandte sich damals an die Schulthess-Klinik in Zürich.

Ursachen bleiben meist unklar

Der damals dort tätige Handchirurg, Sebastian Kluge, fand mit Hilfe von Ultraschall und einer neurologischen Untersuchung rasch die Ursache der Beschwerden: ein Karpaltunnelsyndrom.

© Schulthess Klinik Zürich

Das bedeutet: Der Mittelnerv im Handgelenk hat zu wenig Platz. Er versorgt Daumen, Zeige-, Mittel- und teilweise auch den Ringfinger mit «Gefühl». Wenn sich jedoch sein «Schutzmantel», der Karpaltunnel, verengt, entsteht ein Druck auf den Nerv. Es kommt zu Kribbeln oder Taubheitsgefühlen in der Hand. Typisch sind am Anfang nächtliches Kribbeln in den Fingern, das durch Schütteln nachlässt. Später treten die Symptome auch tagsüber auf, meistens verbunden mit bestimmten Positionen des Handgelenks. Zum Beispiel beim Velofahren oder am Steuerrad im Auto, beim Zeitunglesen, Telefonieren oder Stricken. In fortgeschrittenen Fällen kommt es zu Gefühlsstörungen in den Fingerkuppen und zu einem sichtbaren Muskelschwund im Daumenballen. «Da solche Folgeschäden nur langsam oder überhaupt nicht mehr bessern, sollte die Behandlung früh beginnen», sagt Sebastian Kluge, der heute Inhaber der Praxis Handchirurgie Seefeld in Zürich ist.

Ab vierzig steigt das Risiko eine der häufigsten Handkrankheiten zu bekommen, das Karpaltunnelsyndrom. Frauen sind bis viermal häufiger betroffen als Männer. «Die genauen Ursachen bleiben meist unklar», erklärt der Handspezialist. Trotzdem gibt es Umstände oder Erkrankungen, die das Auftreten des Syndroms begünstigen. Zum Beispiel während der Schwangerschaft oder in der Stillphase. Manchmal sind es auch anatomische Ursachen, weil der Karpaltunnel schon immer zu eng war oder wegen einer Krankheit wie entzündliches Rheuma oder Alkoholmissbrauch. Ebenso belasten repetitive Tätigkeiten der Hände im bestimmten Berufen wie Kassiererin, Masseur oder Strassenarbeiter an vibrierenden Maschinen.  

Ruhigstellen genügte nicht

Nachdem Désirée Kellner endlich ihre Diagnose hatte, versuchte sie es zuerst mit nichtoperativen Therapien. Die Handschiene in der Nacht linderte die Beschwerden, zumindest vorübergehend. «Ich konnte endlich wieder durchschlafen und war auch nicht mehr gereizt meinen Kindern gegenüber!», so Désirée Kellner. Aber nach ein paar Wochen kehrten die alten Beschwerden zurück. Für Désirée Kellner ist heute klar: «Weil ich ständig mit der Hand zu tun hatte, genügten diese Massnahmen nicht!» Sie zählt auf: ständiges Kinderherumtragen, Haushalten oder die Büroarbeiten, die in ihrem Beruf als Sozialarbeiterin anfallen.

Zu den gängigsten nichtoperativen Therapien gehören: Tragen einer nächtlichen Handgelenksmanschette, empfohlen bei leichter Erkrankung. Durch das Ruhigstellen des Handgelenks geht die Reizung des Nervs zurück. Kurzfristig nützt auch Kortison, das in den Karpaltunnel gespritzt wird. «Aufgrund der entzündungshemmenden Wirkung geht die Schwellung des Gewebes zurück und der Druck auf den Nerv verringert sich», erklärt Sebastian Kluge. Trotzdem setzt er es nur zurückhaltend ein, da es die Beschwerden häufig nur vorübergehend behandeln kann.

Manchmal kann auch Physiotherapie einen positiven Effekt haben, was jedoch wissenschaftlich nicht belegt ist. «Der Effekt ist aber minim und nicht anhaltend», sagt der Neurologe Andreas Baumann vom Neurozentrum Oberaargau in Langenthal. Er verordne deshalb auch keine Physiotherapie beim Karpaltunnelsyndrom.

Désirée Kellner entschied sich schliesslich der starken Beschwerden wegen für eine Operation. Sie fürchtete sich allerdings davor, weil sie sich nicht vorstellen konnte, sechs Wochen lang eingeschränkt als Mutter funktionieren zu müssen. «Doch es ging! Dank der Hilfe von Familie und Freunden», erinnert sich Désirée Kellner.

Letzte Massnahme: Operation

Werden Taubheitsgefühle, Kribbeln und in der Folge Schlafstörungen unerträglich, hilft nur noch eine Operation. In der Schweiz erfolgt der kurze, ambulante Eingriff unter Teilnarkose häufig, zirka 20'000-mal pro Jahr. Mit dem Eingriff wird der Karpaltunnel gespalten, sodass der Mittelnerv in der Hand wieder mehr Platz hat. Man kann wählen zwischen einer offenen oder einer so genannten «Schlüsselloch»-Operation mit Hilfe eines kamerageführten Messers. Der Schlüsselloch-Eingriff ist gegenüber einer offenen Operation etwas komplikationsträchtiger, verlagert aber den Schnitt von der Handfläche in die Handgelenksbeugefalte. Dadurch geht die Rehabilitation in den ersten sechs Wochen etwas schneller. Der Eingriff gilt als risikoarm. Das Risiko eines Operationsfehlers ist in der Hand eines geübten Operateurs in der Regel gering.

Nach der Operation trägt man vierzehn Tage eine Handgelenksmanschette. Danach werden die Fäden entfernt. Die ersten acht bis zwölf Wochen kann die Operationsnarbe schmerzen. Mit guter Narbenpflege jedoch verschwinden die Schmerzen rasch. Je nach beruflicher Tätigkeit ist mit einer Arbeitsunfähigkeit von zwei bis sechs Wochen zu rechnen. Die Beschwerden sind meist dauerhaft behoben, einzig bei stark fortgeschrittener Krankheit können Restbeschwerden übrigbleiben.

Auch Désirée Kellner hat keine Probleme mehr an der rechten Hand, auch heute nach zehn Jahren. Velofahren, Gärtnern oder Kochen gehen wieder problemlos. Doch nun beginnt das Ganze mit der linken Hand, seit einigen Monaten. Sie hat bereits wieder eine Operation ins Auge gefasst. Heute ist aber ihre Situation bedeutend einfacher: «Meine beiden Teenager sind ja schon recht selbstständig!», lacht sie.

Karpaltunnelsyndrom

Karpaltunnelsyndrom:
Wie man das Kribbeln stoppen kann

Weil die Ursache häufig unklar ist, kann man einem Karpaltunnelsyndrom nicht vorbeugen. Aber weil die Symptome mit dem Einschlafen der Hände und dem Kribbeln sehr typisch sind, erkennt sie oft auch der Laie. So besteht die Möglichkeit, dass die Krankheit frühzeitig entdeckt wird und rasch behandelt werden kann, um eine unumkehrbare Nervenschädigung zu verhindern. Dennoch gibt es Erkrankungen, wie zum Beispiel solche der Halswirbelsäule, die ähnliche Beschwerden verursachen können. Es lohnt sich deshalb, die Symptome ärztlich abklären zu lassen, am besten bei einem Handspezialisten oder einem Neurologen.

Therapien in der Übersicht:

  • Nachtschiene: Sie verhindert, dass das Handgelenk abknickt und den Nerv reizt. Bei leichter Erkrankung.
  • Kortisonspritze: Bekämpft akute Beschwerden, sollte aber zurückhaltend verwendet werden. Eine dauerhafte Besserung schwerer Symptome ist nicht zu erwarten.
  • Operation: Schafft dauerhaft Platz für den Nerv. Bei starken Beschwerden und wenn sonstige Massnahmen nicht helfen.
  • Physiotherapie: Sie hält Muskeln und Sehnen beweglich, kann vorübergehend Beschwerden lindern. Wissenschaftlicher Nachweis fehlt jedoch.
  • Schmerzmittel: Helfen kaum. Nur wenige Tage anwendbar. Es ist davon abzuraten.

Quellen

Text: Stefan Müller. Dieser Beitrag wurde im Tages Anzeiger publiziert.
Hauptbild: iStock
Illustration und Fachbild: Schulthess Klinik Zürich